Spannender Beitrag:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/reportagen/das-war-unsere-erziehung-wir-kinder-vom-prenzlauer-berg-11008239.html
Wenn ich mich heute an meine Kindheit erinnere, wirkt auch sie so stimmig auf mich wie die Bilder meiner Eltern, als sie noch keine Eltern waren. Ich passe sehr gut hinein, ich bin kein Fehler, aber ich habe auch früh verstanden, dass ich keiner sein darf. Als ein Arzt feststellte, dass ich einen leicht schiefen Rücken hatte, schickten sie mich zur Gymnastik. Als ich in der Schule Schwierigkeiten hatte, schön zu schreiben, kam ich zum Ergotherapeuten. Als ich irgendwann einmal zu keinem der Kurse mehr gehen wollte und nur noch im Wohnzimmer auf dem Sofa herumsprang, ließen sie mich auf ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom untersuchen, das hatten damals viele. Einer meiner Freunde musste sich jede Woche von seiner Psychologin im „Mensch, ärgere Dich nicht“ besiegen lassen, damit er lernte, seine Enttäuschung in den Griff zu bekommen. Jeder war in irgendeiner Therapie oder nahm ein Medikament oder hatte eine Allergie. Darüber wurde unter den Eltern auf dem Spielplatz ganz offen gesprochen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich erkannte, dass es auch ein Problem sein kann, wenn man sonst keins hat. Aber bis dahin denkt man natürlich, dass mit einem etwas nicht stimmt.
Sie waren doch schon meine Eltern
Als Erwachsener sehe ich jetzt, dass die Sehnsucht meiner Eltern alles richtig zu machen mit der Angst einherging, irgendetwas falsch zu machen. Als Kind dagegen hätte mir oft schon eine klare Antwort genügt. Aber wenn ich eine Frage hatte, schlugen sie in einem Erziehungsbuch nach oder fragten einen Arzt oder einen Experten, oder sie fragten mich. Ich weiß noch, wie sie mich fast jedes Wochenende vor die Wahl stellten, was wir unternehmen könnten, und wie ich sie jedes Mal fragte: „Was würdet ihr sagen?“ Aber sie überließen die Entscheidung immer mir, bis ich mich wütend auf den Boden warf. Ich war doch erst acht Jahre alt, ich wäre überallhin mitgekommen.
Mein Vater hat mir später erzählt, dass meine Mutter und er sich vor meiner Geburt darauf geeinigt hätten, niemals meine Freiheit zu begrenzen. Jede Regel, die sie für unsere Familie aufstellten, sollte begründet sein, und sie wollten mir diese Begründung auch geben können, wenn ich sie danach fragte. Sie wollten mich nicht einschränken, damit sie leichter mit mir umgehen konnten. Ich sollte einbezogen sein. Wenn sie etwas verboten, sagten sie nicht, es sei eben verboten und fertig, sondern erklärten es mir, weil sie hofften, dass ich ihr Verbot verstand. Als gebe es das, ein Kind, das ein Verbot versteht, was es selbst betrifft.
Ich erinnere mich an Diskussionen über so simple Dinge wie Händewaschen oder Zähneputzen, und weil jede Regel erklärt wurde, schien auch jede Regel verhandelbar. Es passierte im Grunde nie, dass mein Vater oder meine Mutter irgend etwas anordneten, sie schlugen vor, aber wenn man ihren Willen nicht befolgte, reagierten sie, als habe man sie persönlich beleidigt. Sie stellten sich nie, sie sagten nicht, ich will, dass du das machst, sie sagten, sie seien traurig, wenn ich es nicht täte. Sie behandelten mich wie einen Erwachsenen und legten die Verantwortung für meine Erziehung in meine Hände, während sie danebenstanden, als seien sie meine Freunde. Sie mussten nicht auch noch meine Freunde sein, sie waren schon meine Eltern. Aber als solche gaben sie sich mir viel zu selten zu erkennen.